Impressionen von der Vernissage

Sonntag, 23. März 2014, 17.00 Uhr
Einführung: Jens-Uwe Sommerschuh, Schriftsteller
Musik:
Andreas Scotty Böttcher, Vibraphon

Verschonen wir die Göttinnen mit Äpfeln

von Jens-Uwe Sommerschuh

Liebe Damen und Herren, werte Eingeborene, Zugewanderte und Vorbeigekommene

Über Fotografie, übers Fotografieren und seine Resultate, Lichtbilder in jedem Falle und Kunst im besonderen, ist gewiss schon ein gerüttet Maß an Gescheitem verbreitet worden. Und da ich nichts erzählen möchte, das Ihnen ohnehin klar ist oder das Sie noch heute daheim nachlesen könnten, lassen Sie mich bitte ausholen. Nein, keine Bange. Nicht immer, wenn einer ausholt, gibt es eine Ohrfeige. Manchmal wird es auch eine hübsche Schlägerei. Der Masochist mag sein blaues Auge bekommen, die Sadistin ihr Opfer, das Leckermaul seine Schlagsahne. Also ...

Otto von Winterstein ist, wie Sie vielleicht wissen, nicht sehr bekannt geworden. Und auch nicht sehr alt. Als es ans postume Auf- und Ausräumen ging, fanden auf dem Dachboden die allesamt außerehelich gezeugten Erben Ottos, die Schmidt, Hustinger und Schwinowski wie ihre Mütter hießen, eine Kiste, gut gefüllt mit Zetteln. Es handelte sich um den geistig-kulturellen Teil des Wintersteinschen Vermächtnisses, das ansonsten aus Schulden und einer nicht minder beträchtlichen Menge leerer Flaschen bestand, die er hinterm Eckvorhang seiner Wohn-Schlaf-Denk-Küche gestapelt hatte.

Ein Rätsel? Die Winterstein-Forscher sind sich bis heute nicht einig darüber, ob Otto vorhatte, die Zettel eines Tages in die Flaschen zu stecken und per Flaschenpost der Elbe und mithin der Menschheit anzuvertrauen. Es gibt, sagen die Experten, eine historische Parallele: Als am 15. April 1764 - wir feiern in Kürze den 250. Jahrestag dieser Begebenheit - die adrette Jeanne-Antoinette Poisson verstarb, bekannt als Marquise de Pompadour und Leibfreundin von Louis Quinze, zu deutsch Ludwig XV., hinterließ sie ein Schubfach voller Geld und ein Schubfach voller ungetragener Strümpfe. Sie war nur 42 geworden und hatte es nicht geschafft, das Geld in die Strümpfe zu stecken und sie somit zu Sparstrümpfen zu machen. Doch kann man das mit den Zetteln und Flaschen des Otto von Winterstein vergleichen? Zweifel sind angebracht. Schon der sprachliche Kreuzversuch zeigt: Weder die Sparflasche noch die Strumpfpost haben es in den Duden geschafft. Und was man nicht kreuzen kann, lässt sich auch nicht vergleichen. Außerdem wurden, sagen die einen, bei Otto von Winterstein mehr Zettel als Flaschen vorgefunden. Das besagt gar nichts, meinen die anderen, denn selbst in einer Kunst- und Kulturstadt wie Dresden wird mehr getrunken als geschrieben, das wäre sich schon noch ausgegangen.

Wie so oft in der Geisteswissenschaft führt diese Diskussion am Wesen vorbei, leider werden viel mehr kunstgeschichtliche Doktortitel für Randnotizen aus der Verpackungsforschung vergeben als für Erkenntnisse bei der Beobachtung des Wesentlichen. Was wurde nicht alles herumgerätselt! Malt Baselitz kopfüber oder hängt er die Bilder nur andersrum? Welche Romane las Picasso in der Phase des Übergangs von der blauen zur rosa Periode, und las er sie alle zu Ende? Hatte Chagall tatsächlich eine Rotgrün-Schwäche und wenn ja, sind daran die Russen schuld? Wollen wir das alles wirklich wissen? Fragen wir uns nicht beispielsweise viel mehr: Was stand denn so drauf auf Ottos Zetteln?

Auf einem stand: Kunst ist Vermutung.

Auf einem anderen, einem ziemlich großen, mit Fett- und Senfflecken, war zu lesen:

Die Elbe fließt, glaube ich, in die falsche Richtung. Ich finde: Wenn man wie ich aus Pieschen kommt, und wenn man das irgendwann hinter sich hat, treibt einen die Linkskurve, in der sich die Neustadt befindet, dank uralter kultureller Fliehkräfte beinahe unausweichlich auf die Brühlsche Terrasse, Schloss, Oper, all das zu, das ist samt und sonders, wenn man von Pieschen kommt, rechts, und hat man das hinter sich, steuert man aufs Blaue Wunder zu. Die meisten Dresdner sind weder wirklich vernunftgesteuert noch religiös im Sinne einer konkreten Gottesanbetung, sondern sie glauben ans Blaue Wunder.

Sehen Sie: Auch charismatische Denker wie Otto von Winterstein wurden weitschweifig, wenn sie gegen das Unabänderliche anschrieben. Wohin fließt die Elbe? Bergab.

Auf einem dritten Zettel stand: Rosmarinhonig wird überschätzt. Schmeckt trotzdem.

Ähnliches äußerte er an anderer Stelle über den Elbriesling, über Grünkohl und, warum auch immer, über rothaarige Norwegerinnen.

Mein Lieblingszettel aber vermeldet: Paris war ein Vollidiot.

Jetzt kann ich gewiss gar nicht so schnell reden, wie Sie denken, doch das macht mir nichts aus. Für alle, die gern noch mal Schwarz auf Weiß hören, was sie eh schon wissen: Es waren einmal drei Göttinnen, die hießen Hera, Athene und Aphrodite. Später kannte man sie auch als Juno, Minerva und Venus. Aber das ist wie mit Lehrling und Azubi oder Möhre und Karotte oder viiiertl nach eelf und vörtel zwölfe. Eigentlich das Gleiche, eigentlich weiß jeder, worum es geht. Wenn nur nicht immer das Getue wäre: Also korrekt heißt es doch so und so ...

Sie werden mir hoffentlich zustimmen, dass wir im Großen und Ganzen davon ausgehen können, dass die Aphrodite der Griechen mit der Venus der Römer bedeutungskongruent ist, oder? Interessant finde ich, dass bei einer repräsentativen Umfrage der Jünger Donsbachs in der Dresdner Innenstadt 57,11 Prozent derjenigen, die ahnten, worum es ging, die Auffassung vertraten, das seien zwei verschiedene Göttinnen. Einige erklärten, Aphrodite sei sexuell viel aktiver gewesen als Venus, die ja eher dem Schlummern zugetan war. Da haben wir die Macht der Bilder! Doch dürfen wir ihnen trauen? Wer je eine schlummernde Venus sah, sollte sich sagen lassen: Ja. Gibt's. Aber meistens war sie wach. Und zwar so was von wach! Die blödsinnige deutsche Wendung vom Miteinanderschlafen hat womöglich seinen Ursprung in der schlummernden Venus. Der Deutsche packt sich neben seine Venus und fragt sich, ob die noch mal aufwacht. Schauen Sie mal nach, was die Pariser, die Römer, die Athener dazu sagen!

Zurück zur Geschichte. Bei der Hochzeit von König Peleus mit der Nymphe Thetis, die so schön und gefährlich war, dass selbst Zeus sich nicht getraut hatte, sein übliches "Gehn wer zu mir oder zu dir?" abzulassen, waren alle Götter des Olymp eingeladen, alle außer einer: Eris, Tochter der Nyx. Nyx, laut Hesiod Göttin der Nacht und wie ihr Schwester Gäa und ihr Bruder Eros dem Urchaos entsprungen, also wirklich nicht irgendwer, sagte zu ihrer Tochter: Das lässt du dir nicht bieten, mein Kind! Misch sie auf! Mach sie fertig! Und sie gab ihr den Apfel.

Eris war als Götterkind von einigem Liebreiz gewesen, nett und anpassungsfähig, stets bereit nachzugeben, wenn es der Harmonie im olympischen Sandkasten zuträglich war. Nur dass das keinen interessierte. Unbegreiflicherweise wurde sie geärgert und gemobbt, dass kein Auge trocken blieb. Klein-Hera schlug einmal mit dem Schäufelchen auf sie ein und krähte: "Merkste eh nicht, hast ja'n Holzkopf". Klein-Athene bemerkte des öfteren: "Also ich finde, hier riecht's komisch. Bist du das, Eris?!?" Und klein Aphrodite, damals kaum den Windeln entwachsen, sagte zu Eris: "Wenn ich groß bin, werde ich Liebesgöttin. Und du? Du wirst bestimmt Nachwächterin." Eine so intelligente wie bösartige Anspielung auf den Beruf von Eris' Mutter Nyx. Nach und nach und zunächst ganz unauffällig verwandelte sich Eris in ein rachsüchtiges Biest, das auf seine Stunde wartete. Die war nun gekommen. Sie öffnete die Tür zum Hochzeitssaal, ließ ein böses Kichern hören, so dass alle verstummten und zu ihr hinsahen, und warf den Apfel in die Runde. "Kallistá!" rief sie. "Für die ... Schönste unter euch!"

Während einige der Göttinnen in sich reinschmunzelten, denn kluge Frauen wissen erstens, was sie an sich haben, und zweitens können sie eine Provokation von einem Wettbewerb unterscheiden, waren es letztlich die bekannten drei Damen, die einen Riesenaufriss machten. Hera, die ja nicht nur Gattin des Zeus war, sondern auch seine Schwester, saß dem Irrglauben auf, dass Macht a priori auch schön macht. Die vielen Liebschaften des Zeus, der ja nichts ausgelassen hatte, was nicht bei drei auf dem Baum war, hatten sie zudem schon recht zermürbt, da gab es einen bitteren Zug um die Mundwinkel und resignative Elemente in der Körperhaltung, und im Grunde waren sich alle ringsum insgeheim einig, dass Hera keine echte Konkurrenz für die anderen beiden darstellte. Doch bei der Gattin und Schwester des Chefs sagt das natürlich keiner laut. Außerdem hatte sie etwas an sich, manchmal im Blick, manchmal in einer Geste, das durchaus von tiefer innerer Schönheit zeugte, einer Art von Schönheit, mit der die Jüngeren nicht aufwarten konnten. Athene, die Beinamen wie "Prómachos - die Kämpferische", "Atrítoni - die Unermüdliche" und "Glavkópis - die Helläugige" trug, war mehr so der sportliche, dynamische Typ. Sie war den meisten Jungs geistig und körperlich ebenbürtig, wenn nicht überlegen, zog in Auseinandersetzungen, bildlich gesprochen, nie den Schwanz ein, sie erzählte gern Witze, über die nur sie lachen konnte, sie lebte absolut keusch und hatte bereits zwei Fachbücher veröffentlicht, eins über die Vorzüge der platonischen Liebe und ihre positive Auswirkung auf die Verdauungsorgane und eins über Kampfkunst, das sogar ins Persische übersetzt worden war, nach dem Motto: Feind liest mit. Naja, und dann halt Aphrodite.

Jede der drei sagte laut und vernehmlich: "Die schönste von allen hier bin eindeutig ICH." Die eine dachte: "Wer ja noch schöner, wenn nicht ich!" Die zweite dachte: "Ob ihr es kapiert oder nicht, ich kann meine Schönheit beweisen!" Und die dritte dachte, nicht ohne zu schmunzeln: "Ihr werdet schon sehen." Göttliches Gemurmel und Gebrabbel und Getuschel ringsum, aber niemand erhob die Stimme für eine der drei. Nicht einmal Zeus. Der schon gar nicht. Wenn die Gerüchte stimmten, waren die feschen Konkurrentinnen seiner Gattin beides Töchter von ihm. Zeus war, wie wir sagen würden, befangen, und er wusste, dass alle das wussten.

Wie man nun darauf kam, einen irdischen Prinzen mit der Entscheidung zu betrauen, und dann ausgerechnet diesen Dödel aus Troja, das weiß heute keiner mehr. Was wir aber wissen: Als sie dem Knaben gegenüberstanden, dem Weichei, Warmduscher und Hintertürenschleicher aus dem Palast des Príamos, merkten die drei Göttinnen sofort, was Sache war und versuchten ihn zu bestechen. Hera versprach ihm Macht, Athene Weisheit und Aphrodite suggerierte ihm, er könne die Liebe der schönsten Frau der Welt erlangen. Dass sie damit Helena meinte, die Gattin des Königs von Sparta, die zwar nicht schlecht aussah, aber charakterlich eine glatte Fünf war, geschenkt. Paris, diese korrupte Pfeife, biss an, kürte Aphrodite, bekam Helena, und alsbald war ein  mörderischer Krieg in vollem Gange, der zehn Jahre währen und Troja letztlich in Schutt und Asche legen sollte.

Was fällt uns auf? Paris war überhaupt nicht qualifiziert, einen solche Wahl zu treffen. Die beiden Frauengestalten, die ihn bislang entscheidend geprägt hatten, waren seine Mutter und seine Schwester Kassandra, die schwermütige Seherin. Solchen Typen gefallen vor allem Frauen, die irgendwie der Mama ähneln oder sich recht deutlich von der unbegreiflichen Schwester unterscheiden. Hätte Paris nur einer einzelnen Göttin gegenübergestanden, hätte er sich schon schwergetan. Bei dreien auf einmal war er klar überfordert. Der trat von einem Bein aufs andere, wollte die peinliche Situation nur schnell hinter sich haben, und als dann die Göttinnen die recht plumpen Bestechungsversuche starteten, griff er hastig zu. Das war dann doch einfach, denn er entschied sich gegen das, was er nicht wollte. Macht? "Um Gottes willen", dachte er, "da ecke ich doch mit Papa an!" Weisheit? "Hilfe! Dann werde ich noch wie Kassandra!" Beides machte ihm Angst. Dass er Helena für das geringste Übel hielt, "die Liebe der schönsten Frau, na ja ... warum nicht?" Mit ein bisschen mehr Lebenserfahrung hätte er gewusst: Nichts ist so teuer wie das.

Warum nun hat Otto von Winterstein, der früh verstorbene Denker aus Pieschen, Paris einen Vollidioten genannt? Nicht nur, weil er sich in Dinge einmischte, von denen er wenig Ahnung hatte! Nicht nur weil er sich bestechen ließ! Sondern vor allem, weil er überhaupt eine Entscheidung traf! Manchmal muss man sich entscheiden. Manchmal kann man das, und manchmal darf man das auf gar keinen Fall tun.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind auf Kreuzfahrt im Mittelmeer, der Kapitän setzt das Schiffchen gegen eine Klippe, die Aida sinkt, Sie springen rechtzeitig über Bord und bald darauf finden sie sich mit drei anderen Ex-Passagieren in einem kleinen Rettungsboot mit zwei Rudern wieder, das ein wenig leckt. Sie sind, wer Sie sind. Die anderen, sagen wir, sind - eine Russin, eine Ukrainerin und eine Krimtatarin. Oder ein Rabbi aus Tel Aviv, ein Pfarrer aus Reinhardtsgrimma und ein Muezzin aus Ramallah. Jetzt könnte man diskutieren, ob das Boot nicht zu klein für sooo viele Leute ist und wer über Bord gehört. Man könnte auch die Klappe halten, Wasser schöpfen und sich beim Rudern schön abwechseln.

Paris hätte den Apfel der Eris in drei gleich große Teile zerschneiden können. Das ist aber nicht leicht. Man braucht eine ruhige Hand und ein sehr gutes Auge. Er hätte ihn auch reiben können, geriebener Apfel ist gesund, oder zu Apfelmus verarbeiten, drei Schälchen mit Zimt, "eins für jede von euch, möge euch eure so unterschiedliche Schönheit lange erhalten bleiben". Oder er hätte den Apfel ins Meer oder in die Büsche schleudern können: "Holt ihn euch oder lasst es bleiben. Vielleicht ist eine, die sich schöner dünkt als alle anderen, a priori ziemlich hässlich?" Ist ihm nicht eingefallen. Oder hat er sich nicht getraut.

Jetzt werde ich Ihnen was verraten. Erstens folgt dieser Text, bei dem sich womöglich einige fragen, worauf der schlussendlich, wie die Schweizer sagen, hinaus will und wann denn nun die Fotografien der Herren Berger, Bräuer und Wöhling Erwähnung finden, erstens also folgt dieser Text der Sonatenhauptsatzform. Einleitung, Exposition, Durchführung und Reprise haben Sie bereits hinter sich, fehlt nur noch die Coda, was von lateinisch "cauda" kommt und Schwanz bedeutet oder Fortsatz. Zweitens hat zwar der Trojanische Krieg wohl wirklich stattgefunden, doch den Auslöser, den Konflikt, den ein überforderter Paris mit seiner Wahl heraufbeschwor, hat sich der Dichter Ómiros, den wir Deutschen Homér nennen und die Amis Hóumer, von vorn bis hinten ausgedacht. Ob zum Selbstzweck, denn eine gute Story ist eine gute Story, und die Ilias hat sich als ein wahrer Bestseller entpuppt, oder um zu warnen - wir wissen es nicht.

Nun aber kommt es: Hera und Athene und Aphrodite haben sich in Wirklichkeit nie auf einen Wettstreit eingelassen, das Ganze ist homerischer Männerphantasie entsprungen, der üppigen Vorstellungskraft eines Mannes, der zudem blind war, also eine eher abstrakte, universelle, allgemeine Idee von Schönheit hatte. Es gibt aber kaum etwas Konkreteres als die Schönheit von Frauen, und da machen auch Göttinnen keine Ausnahmen.

Als unsterbliche Wesen haben sie all die Epochen mit ihren Machtgebilden, Kulturen und Religionen relativ unbeschadet überstanden. Sie sind hier irgendwo unter uns oder zumindest nicht weit. Ihre Identität ist gut getarnt. Vielleicht sitzt eine von ihnen im Landtag, im Rathaus oder in einem Aufsichtsrat oder sie hat einen Gatten, der sitzt. Vielleicht ist eine von ihnen Anwältin oder Professorin für Urknall- und Teilchenphysik oder Dozentin für Vergleichende Ikonografie in der albanischen Renaissanceschnitzerei oder auch Anästhesie-Assistentin an der Medak, die heute Universitätsklinikum Carl Gustav Carus heißt. Vielleicht ist eine Aktmodell an der Kunstakademie, Tänzerin im Klax oder Kellnerin im Hechtviertel? Wir können ihnen täglich begegnen. Und wenn wir sie zu Hause besuchten, könnten wir Bilder bestaunen, die an jenen Wänden prangten, die bei weniger göttlichen Wesen von Schrankwänden verdeckt würden. Ich stelle mir vor ...

Bei der einen Göttin finde ich Bilder von einer gewissen erhabenen Strenge, manche hintergründig und rätselhaft, zumindest auf den ersten, zweiten Blick. Ich fokussiere und trete zurück, kneife die Augen zusammen. Das Bild "Hammerweg" zeigt zu zehn Elfteln die leicht verschwommenen Schatten von Bäumen und einer Straßenlaterne auf einer Betonmauer, drüber eine Handbreit blauer Himmel, davor Wiese, die nach Herbst riechen würde, wenn es nicht das Bild einer Wiese wäre. Sagen Sie nie NUR ein Bild. Ein Bild ist nie weniger als das, was es darzustellen scheint. Ein Bild ist immer mehr. Das begründe ich Ihnen jetzt nicht. Das müssen Sie mir einfach glauben. Vier der Fotografien in der Wohnung dieser Göttin zeigen: eine Ziegelmauer mit Putzresten, Treppe und Geländer -- sich kreuzende Schienen und Pflaster, mit Sand, Splitt und Schlacke zugesetzt -- schwingende, kurvende Grasfeldeinfassungen -- eine Kopfsteinpflastermelodie, alles schwarz-weiß und doch von der klaren Poesie eines Regenbogens. "Ja", sagt die Göttin, die sich freut, dass ich gucke und gucke und gar nicht wieder aufhöre zu gucken, "das ist vom Wöhling-Ralf. Felsenkellerbrauerei. Hofmühle. Zwinger. Pieschener Allee. All das kennt man eigentlich, oder? Aber so? So noch nie gesehen." Wer bin ich, dass ich einer Göttin widerspräche?

Bei der nächsten Göttin entdecke ich das Bild einer Silhouette. Barockes Schwarz vor einem Abendhimmel, leuchtender als der Bauch eines Kleibers, mit brandig orangefarbenen Wolken, und das Bauwerk, die von der Spitze des Hausmannsturms überragte Kirche Chiaveris, zeigt sechzehn Gestalten, Heilige, Apostel, Leute, die herabzusteigen scheinen. "Der Bräuer-Oliver", sagt die Göttin, "ist ein Mann, dessen Humor um zwei Ecken kommt. Deswegen finden manche seine Bilder schön, andere finden sie witzig, und die dritten finden, dass das eine das andere nicht ausschließt." Als ich dann ein Bild des berühmten Bogenschützen entdecke, gerate ich ins Kichern, denn ich sehe, worauf der Bogenschütze zielt. Die Göttin lacht und sagt lakonisch: "Eigentlich egal, worauf er zielt. Eigentlich gleich, von welcher Seite man schaut. Dieser Bogenschütze träfe immer etwas, das einen Pfeil verdiente. Es lohnt sich, auf der Lauer zu liegen und kurz vor dem Schuss ... abzudrücken." Oh, eine Göttin, die noch den Konjunktiv und den erweiterten Infinitiv mit zu beherrscht. Toll. Wahrscheinlich lebt sie noch ohne Smartfon. "Bräuer", sagt sie, "fotografiert nach wie vor analog. Er kann sogar eine Dampflok fahren." Als ob das eine etwas mit dem anderen ... Sage keiner, griechische Göttinnen seien durch nichts zu beeindrucken.

Bei der dritten Göttin wird mir bunt vor Augen. Kommt man bei ihr durch die Wohnungstür, läuft man gegen einen Wollvorhang, geknüpft aus Fäden in siebzehn verschiedenen Grün- und elf verschiedenen Brauntönen, dazu etwas Rot und Gelb. Linde, Limette, Gurke, Gras, Frosch, Krokodil und Sauerampfer. Kakao, Kaffee, Reh, Bär und Rouladensoße. Blut und Kirsche. Butter, Dotter, Entenkücken. Farben gibt's! Die Göttin selbst hat sich die Lippen violett geschminkt, was mich im Zusammenspiel mit ihren birnengrünen Augen sprachlos macht. So trete ich stumm in ihren ovalen Salon und bin nicht überrascht, an den Wänden Fotografien von einer tanzenden, weichen Farbigkeit vorzufinden, die nichts mit der gängigen Vorstellung vom "Forbfoudoo" gemein hat. Langzeit- und auch Mehrfachbelichtungen, die schemenhaft Häuser, Kirchen, Tore und Brücken zeigen, die nicht still zu stehen, sondern im Licht zu schwimmen, zu vibrieren scheinen. Die Kuppel und eines der Minarette der Yenidse, deren Spiegelbild sich auf der Oberfläche der Elbe kräuselt, charmant codiert und so wohl nur dem Eingeweihten erkennbar. "Der Berger-Johannes", sagt die Göttin, "ist Architekt und malt auch. Wenn alle Architekten auch malen würden, wäre die Welt sicher ..." Sie sucht nach Worten, zupft sich am Ohrläppchen, ihre Zunge huscht über die veilchenfarbenen Lippen, und ihr Blick trudelt in die Ferne. "Malerischer?" biete ich an. "Was?" sagt sie und schaut drein, als sei sie geweckt worden. "Wovon sprachen wir gerade?" Ohne die Verträumten, sage ich mir in solchen Momenten, wären wir ein Volk von Steuerzahlern und anderen Bedürftigen.

Jetzt fehlt noch ein Schluss. Otto von Winterstein - Sie erinnern sich? Otto von Winterstein schrieb auf einen seiner nie auf Flasche gezogenen Zettel: "Wenn die Worte verklungen und verhallt sind, dann lass den Blick schweifen. Du wirst schweigend schweifenden Blickes immer etwas entdecken, das du redend und hörend übersehen hast." Also dann ...

 

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